PICTOPIA beliefert Bibliotheken in ganz Österreich mit Comics. So zählen sowohl öffentliche Büchereien als auch Universitätsbibliotheken und natürlich Schulbibliotheken zu unseren Kund*innen. Insbesondere die Zusammenarbeit mit Schulbibliotheken ist uns ein zentrales Anliegen.
Neben dem klassischen Buchhändlerservice bietet PICTOPIA seit mehreren Jahren einen Lehrer*innenfortbildungs-Workshop an, in dem wir die Einsatzmöglichkeiten von Comics im Unterricht vermitteln. In diesem Workshop erläutern wir auch, welchen Beitrag Comics zur Leseförderung leisten. Der folgende Text fasst zusammen, was in dem dreistündigen Seminar im Detail erarbeitet wird.
Am Ende des Essays finden Sie als besonderen Service eine Sammlung von Didaktisierungen empfehlenswerter Comics.
Der moderne Comic ist mit seinen rund 100 Jahren eine relativ junge Erzählform, die vielerlei Möglichkeiten für eine sinnvolle Verwendung im Unterricht bietet. Aufgrund ihrer seltenen Verwendung animieren Comics Schüler*innen noch im Unterricht, sie können aufgrund ihrer Anschaulichkeit in kurzer Zeit sehr viele Informationen viusell vermitteln, und sie können zu einer kritischeren und bewussteren Bildwahrnehmung genutzt werden. Sie können textleseschwache Schüler*innen bis zu einem gewissen Grad enthemmen, sie eignen sich wunderbar für die Vertiefung von Fremdsprachenkenntnissen und sind vom pragmatisch-technischen Standpunkt her sehr unkompliziert einsetzbar.
Nur einen Haken hat die Sache: es kann nicht vorausgesetzt werden, dass alle Kinder Comics lesen. Das verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass nur wenige Erwachsene im deutschen Sprachraum regelmäßig Comics lesen und diese Lesefähigkeit somit auch gar nicht an ihre Kinder weitergeben könnten.
Vor dem Einsatz im Unterricht muss das Medium zuerst in seinen grundlegenden Prinzipien den Schüler*innen vorgestellt und erklärt werden. Denn der Befund lautet ganz klar: Das Comic-Lesen an sich muss auch erst einmal gelernt werden. Denn erst danach kann man mit den Schüler*innen über den gelesenen Comic auch auf einer tieferen Ebene reden. Das heisst, bevor geneigte Pädagog*innen Comics in ihren Unterricht einfließen lassen, müssen sie selbst einen sinnvollen und positiven Umgang mit dieser Erzählform haben, und selbst in der Lage sein, einen Comic auch zu lesen. Dann bietet die Lektüre von Comics eine Vielzahl reicher und lohnender Erfahrungen für jene, die diese Kulturfähigkeit – nennen wir sie eine piktoriale Lesefähigkeit – erlernen durften. Auch im Unterricht.
Was macht das Lesen von Comics speziell? Comics sind ein visuelles Medium, das von seiner Aufgebrochenheit in viele statische Einzelbilder – die sogenannten „Panels“ – lebt, welche ein zusammenhängendes, sequenzielles Erzählnetzwerk bilden, räumlich verteilt und angeordnet auf Seiten. Der Comicleser ist ein Bilddeuter und deutet das Bildangebot in jedem ihm gebotenen Panel. Bilder sind – im Gegensatz zu geschriebenen Texten – in ihrer Bedeutung offener, mehrdeutiger und müssen erst interpretiert werden. Die Bildwahrnehmung selbst vollzieht sich meist sehr schnell, direkt und unmittelbar auf einer emotionalen Ebene.
Bei jedem Übergang von Bild zu Bild gibt es weiters eine Lücke zu füllen: das erste Bild endet und das zweite Bild beginnt – aber dazwischen ist ein erzählerisch bedeutsamer Spalt. Eine narrative Lücke, die die Leserin deduktiv erst schließen muss. Was ist zwischen den Bildern passiert? Worin besteht der Zusammenhang zwischen dem Bild, das ich vorhin gelesen habe und jenem, das ich jetzt gerade lese? Diese erzählerische Ergänzungsleistung – die Erzeugung des erzählerischen Zusammenhangs zwischen den Panels, die Induktion – bestreiten die Lesenden allein, und um dies zu können, ziehen sie ihr bereits vorhandenes Wissen und ihre Erfahrungen heran. Die Comic-Leserin selbst bestimmt schließlich, wie viel Handlungszeit pro Bild vergeht und wie viel Handlungszeit zwischen den Panels verronnen ist. Die Panels zeigen uns letztlich nur puzzle-hafte Ausschnitte aus der Handlung. Die eigentliche Handlung selbst wird aktiv von den Lesenden konstruiert.
Bild und Text im Comic
Für ungeübte Leser*innen stellt das gemeinsame Bild- und Textangebot des modernen Comics eine Hürde dar. „Was lese ich zuerst – das Bild oder den Text?“ ist eine anscheinend nicht triviale Frage, die sich bei vielen erwachsenen Leser*innen erhebt, die neu zum Medium Comic gekommen sind. Eine wissenschaftlich fundierte Antwort muss vorerst noch ausbleiben. Vermutlich handelt es sich schlicht um eine ungenügende Vertrautheit mit der Erzählform, ab der sich erst ein gewisser als angenehm empfundener Lesefluss bei den Leser*innen einstellt.
Aber gerade die Fülle an Unterbrechungen im Comic lädt zu einer entschleunigten Lektüre ein. Die Comic-Leserin ist relativ frei und selbstbestimmt: In ihrem eigenen Lesetempo beschließt sie, wohin ihre Augen wandern und wie lange diese auf dem gegenwärtigen Panel verweilen, bevor der Blick zum nächsten Panel hinübergeht. Hier wird auch eine weitere Eigenheit des Comic-Mediums deutlich: Alle einzelnen Panels einer Comicseite, welche ja eigentlich in sequenzieller Reihenfolge gelesen werden, sind stets vollzählig gemeinsam und gleichzeitig auf der Seite präsent und offensichtlich. Dadurch ist man als Leser oftmals in Versuchung einen Panel zu betrachten, noch bevor man diesen im eigentlichen Lesefluss erreicht hat. Viele potenzielle optische Ablenkungen können auf das Leserauge einwirken. Inwieweit diese Ablenkungen tatsächlich stattfinden und gar als störend empfunden werden, ist auch eine Frage der Qualität des konkreten Comics.
Der moderne Comic hat ein Inventar an Erzählkonventionen und Symbolen, mit dem man sich erst vertraut machen muss. Zu den am häufigsten eingesetzten Mitteln zählen die Sprech- und Gedankenblase (wobei die Form der Blase eine reine Konvention ist. Direkte Rede im Comic muss eine gewisse räumliche Grundnähe zu ihrem Protagonisten haben, sie muss aber nicht unbedingt in Form einer Blase gezeigt werden), Schweißtropfen, welche für allgemeine emotionale Erregung stehen und natürlich die Bewegungslinien („speed lines“), welche die Lesenden zu wahrgenommener Bewegung verlebendigen.
Texte sind Elemente der Panels, die in der Bildkomposition berücksichtigt werden. Texte können im Comic diverse erzählerische Funktionen haben: Voice-Over-Erzählerstimmen werden formal oftmals in „Erzählkästen“ wiedergegeben, die sich optisch durch die Sprachblasen unterscheiden, welche für Dialoge reserviert sind. Innere Monologe der Protagonisten können sowohl in Erzählkästen als auch in eigenen „Gedankenblasen“ wiedergegeben werden, die optisch wiederum von den Dialog-Sprechblasen differenziert werden. Lautmalerische Klangworte à la „ZACK!“ kann es auch geben, wobei diese in ihrer Häufigkeit oft überbewertet werden. Die Texte können die visuelle Information einerseits konkretisieren aber auch kommentieren oder gar konterkarieren.
Dynamik und Dramatik entstehen im Comic durch das Zusammenspiel von Bildfolgen und Texten, den Wechsel der Perspektiven von Panel zu Panel und durch die Komposition der Comicseite an sich und die vielfältig stattfindenden, wechselwirkenden Bezüge ihrer einzelnen, die Seite konstituierenden Panels. Aufgrund der künstlerischen, bildnerischen Machart von Comics kann in einem Panel das objektive Geschehen durch die subjektive Wahrnehmung bezüglich des Protagonisten gefärbt dargestellt werden. Ein Beispiel für eine solche Mischung von objektivem Geschehen und subjektiver Wahrnehmung sieht man auf dieser Seite von Manu Larcenets grafischen Entwicklungsroman „Der alltägliche Kampf“ (Reprodukt).
Der junge Fotograf Marco, Hauptprotagonist der Erzählung, leidet an Panikattacken. Im ersten Panel der hier gezeigten Seite liegt Marco bereits am Boden, niedergestreckt von einer Attacke. Alles – bis auf seinen Nachbarn, welcher nicht an Panikattacken leidet und ihm gerade seine Tabletten reicht – ist rot eingefärbt und Marcos Augen sind schwarze Flecken geworden. Im dritten Panel hat die Wirkung der Medizin bereits eingesetzt, der Anfall ist vorüber und Marco schläft – die Farbgebung ist wieder „normal“, die Augen „entschwärzt“.
Copyright: Manu Larcenet, Reprodukt-Verlag
Die didaktischen Ziele des Comics
Man bringt die Schüler*innen erstens zum Lesen, und man kann leicht und spielerisch vielerlei Schreib- und Erzählanlässe schaffen. Man kann beispielsweise Geschichten gemeinsam anlesen, und den weiteren Handlungsverlauf überlegen sich die Schüler*innen nun selbst: Sie erzählen ihn der Klasse, oder stellen ihren Handlungsverlauf spielerisch nach oder schreiben einen Aufsatz.
Oder man beginnt die Lektüre eines Comics gemeinsam und löscht ab einem gewissen Punkt in der Handlung die Texte im Comic aus und lässt die Schüler*innen die freien Textstellen nun selbst beschriften. Oder man nimmt eine spätere Seite aus dem gemeinsam angelesenen Comic und durchmischt die einzelnen Bilder der Comicseite. Nun sollen die Schüler*innen die einzelnen Bilder wieder zu einer sinnvoll erzählenden Comicseite räumlich anordnen. Man kann den gelesenen Comic nach seinem Erzählmuster hin beschreiben und interpretieren. Gibt es verschiedene Erzählebenen? Wer ist gut, wer böse? Wie werden schriftliche Texte in dem Comic eingesetzt?
Die ganze Zeit über können die Schüler*innen ihre Lektüre beschreiben und interpretieren, begründen ihre selbst gewählten Handlungen und Interpretationen und artikulieren diese. Darüber kann dann in der Klasse diskutiert werden. Und da ist man schon mitten in der Bildanalyse und kann den Schüler*innen beibringen, was eine Perspektive ist, welche Bedeutung Farben haben, wie uns die gewählten zeichnerischen Mittel und die Stilistik der Darstellung emotional beeinflussen können, wie visuelle Kommunikation funktioniert, wie der Blick gelenkt wird, oder ob und wie mit Stereotypen gearbeitet wird.
Im Rahmen der Bildanalyse kann man nun das heikle Terrain der Bildwahrnehmung und der visuellen Stereotype betreten. Es ist paradox, aber die bildliche Art der Darstellung eines Gegenstands oder einer Person bestimmt die unmittelbare emotionale Wahrnehmung des Dargestellten. Wie etwas bildlich dargestellt wird determiniert, wie man das Dargestellte emotional wahrnimmt. Comics eignen sich hervorragend, um dieses Phänomen genauer zu beleuchten – auch weil man im Unterricht nicht auf die Stopptaste drücken muss, um gewisse Bilder näher zu betrachten, denn die Comicseite bleibt solange vor den studierenden Augen liegen, bis wir sie von selbst umblättern.
Wann kann man von einer legitimen zeichnerischen Verkürzung im Kontext des Erzählten sprechen, wann von einer bewussten Verwendung von Stereotypen zur gezielten Manipulation der Lesenden?
Vorhin wurde postuliert, dass die psychologische Wahrnehmung von Bildern im Allgemeinen schnell und unmittelbar und auf einer primär emotionalen Ebene abläuft. Wie leicht kann man zu einer bildlichen Darstellung auf kritische Distanz gehen? Wie leicht kann man eine bildliche Darstellung bewusst hinterfragen? Es ist nicht leicht, und das erklärt, warum Propaganda und Werbung oft visueller Natur sind und oft ihren gewünschten Effekt erzielen. Bei einer visuell mündigeren Bevölkerung wäre das jedoch anders. Genau aus diesem Grund besitzen visuelle Erzählformen hohe Bildungsrelevanz, und es ist wichtig, mit ihnen im Unterricht zu arbeiten.
Schließlich kann man dazu beitragen, Schüler*innen zu kompetenteren Comic-Leser*innen zu machen, die die Programme der Verlage und das im Handel gebotene Sortiment mit einem kritischen Blick gustieren können.
Anhand der Lektüre von Comics kann man sich nicht zuletzt auch profundes Sachwissen aneignen. So sind historisch triftige Comics sowohl zur Vertiefung als auch zur Erschließung von historischem Wissen bestens geeignet.
Didaktisierungen empfehlenswerter Comics:
Kindercomics:
BONE von Jeff Smith (Didaktisierung auf Englisch (C) Lernchancen/Friedrich Verlag Gmbh – erhältlich in Heft Lernchancen 108/2015)
KETCHUP FÜR DIE KÖNIGIN von Rutu Modan (Didaktisierung (C) J.D. Ho ; Auf Englisch)
KISTE von Patrick Wirbeleit und Uwe Heidschötter (Didaktisierung (C) Stiftung Lesen)
(Auf Stiftung Lesen finden Sie ein breites Angebot an Unterrichtsimpulsen)
MEINE MUTTER von Émile Bravo (Didaktisierung (C) Carlsen Verlag GmbH)
(Auf dem Carlsen-Lehrerportal finden Sie ein breites Angebot an Unterrichtsimpulsen)
Adoleszenz:
EIN SOMMER AM SEE von Mariko und Jillian Tamaki (Didaktisierung (C) Meryl Jaffe; Auf Englisch)
Literaturadaptionen:
FAUST von Flix (Didaktisierung (C) Carlsen Verlag Gmbh)
Politik/Historisches:
BARFUSS DURCH HIROSHIMA von Keiji Nakazawa (Didaktisierung von und (C) Meryl Jaffe; Auf Englisch)
ELENDER KRIEG von Jacques Tardi (Didaktisierung von und (C) Peter Schott, Nancy; Edition Moderne)
PERSEPOLIS von Marjane Satrapi (Didaktisierung von und (C) Peter Schott, Nancy; Edition Moderne)
PERSEPOLIS von Marjane Satrapi (Didaktisierung (C) Meryl Jaffe; Auf Englisch)
Diese Liste entstand im Zuge des Erasmus+ Projekts „Soundwords: Graphic Story Telling“ (Strategic Partnerships for school education; 2017-1-AT01-KA201-035032).
Disclaimer: Die Unterstützung der Europäischen Kommission für die Erstellung dieser Veröffentlichung stellt keine Billigung des Inhalts dar, welcher nur die Ansichten der Verfasser wiedergibt, und die Kommission kann nicht für eine etwaige Verwendung der darin enthaltenen Informationen haftbar gemacht werden.
Die gute Nachricht gleich zu Beginn: Kindercomics sind ein wunderbares Mittel, um die Lesefähigkeit von Kindern und Jugendlichen nachhaltig zu fördern. Renommierte Institutionen zur Leseförderung wie die Stiftung Lesen und der Buchklub der Jugend arbeiten bereits seit längerem aktiv mit Comics und empfehlen explizit ihre Verwendung. Warum das so ist, soll im Folgenden ausgeführt werden.
1 ) Comics sind ein Türöffner in die Lesewelt:
“Comics are a gateway drug to literacy.” – Art Spiegelman (Pulitzer-Preisträger, Autor von MAUS)
Für Kinder mit Leseschwäche sind Comics der vielleicht beste Einstieg in die Welt der Literatur. Manche Kinder empfinden das Lesen von längeren Prosatexten als schwierig und mühselig. Bei ihnen stellt sich beim Schriftlesen kein befriedigender Lesefluss, keine innere Bildreise ein – der berühmte „Film im Kopf“. Diesen Lesenden bieten Comics eine ausgezeichnete Leseplattform, denn die Bilder des Comics unterstützen sie bei der Lektüre und fungieren als visueller Anker für ihr Leseerlebnis.
Sowohl die Anzahl als auch die Länge von Texten sind in Kindercomics gut überschaubar. Sie sind sogar meist in eigenen Sprechblasen und Textkästen optisch abgegrenzt, was Kinder mit Leseschwäche zusätzlich motiviert, denn hier wird ein niederschwelliger Einstieg geboten.
Man kann beim Comiclesen einfach einmal die Bilder sprechen lassen und visuell den Aufbau einer Geschichte nachverfolgen. So können auch schwache Schriftleser anspruchsvolle Geschichten ohne Frustrationserlebnisse und auf einem Niveau lesen, dessen sie in reiner Schriftform noch nicht mächtig wären – und das motiviert zum Weiterlesen.
Gute Kindercomics sind meist intelligente und witzige Kurzgeschichten, die sich leicht und flüssig lesen lassen. Die Kinder können relativ schnell und auch einmal zwischendurch eine abgeschlossene Geschichte lesen. Man kann Comics auch seitenweise, also in kleinen Happen lesen, wieder weglegen und sich die Lektüre in Leseportionen einteilen. Diese Überschaubarkeit erlaubt einen weiteren niederschwelligen Zugang für schwache Schriftleser.
Comics bieten ihren Lesenden ein in sich geschlossenes Erzählsystem, in dem komplexe Erzählelemente sehr klar kommuniziert werden. Dass die gesprochene Sprache in den Sprechblasen steht, dass die Erzählstimme in Textkästen abgegrenzt ist, ist für viele Kinder intuitiv leicht erkennbar. Auch Kinder mit Leseschwäche können sich mit ansprechenden Kindercomics in relativ kurzer Zeit durch eine ganze Geschichte lesen und in einen befriedigenden Lesefluss kommen. Und wir wollen motivierte junge Leserinnen und Leser!
Das verwendete Vokabular in Kindercomics ist meist aufgeweckt, fortgeschritten, pfiffig und dabei auch kurz und bündig. So lernen Kinder, wie man verbal treffend und prägnant kommuniziert. Die Texte in einem guten Comic müssen eben genauso gut, präzise, wie auch hinreichend evokativ sein, damit sich der Comic letztlich auch gut liest. Gute Comics sind eine Verbindung von Grafik Design und Poesie: Jedes Wort muss innerhalb der Bildkomposition auch gut sitzen. Die Wortwahl in einem Comic ist schon allein deshalb sorgsam gewählt, weil die Verwendung von Schrift aus Platzgründen begrenzt ist.
Die Bilder des Comics veranschaulichen weiters die verwendeten Wörter und erklären, bzw. definieren sie auf visueller Ebene. Zudem liefern sie Kontextinformationen und unterstützen somit auch das Lernen der Bedeutung neuer Wörter. So lernt man über mehrere Kanäle – nämlich verbal und visuell – die Bedeutung von schriftlichen Begriffen, die man noch nicht kennt: ein visuell
unterstütztes Vokabellernen. Ein Umstand, der insbesondere beim Erlernen einer Fremdsprache von Vorteil ist.
Comicbilder vermitteln oft emotionale Gefühlszustände und Stimmungslagen durch die gezeichnete Mimik und Körperhaltung, wodurch Kinder die bildlich gezeigten Gesichtsausdrücke mit den sie beschreibenden Worten verbinden können. Beim Comiclesen deuten die Kinder weiters die dargestellten Gesichtsausdrücke selbst und lernen so, sich in eine Figur hineinzuversetzen. Comics schulen somit das empathische Einfühlungsvermögen, da man sich beim Comiclesen, so lange man möchte, auf ein einzelnes, unbewegtes Bild allein konzentrieren kann (im Gegensatz zum Film, der die Bilder in einer vorgegebenen Geschwindigkeit und mit Klang kombiniert ablaufen lässt).
2 ) Das Genussprinzip:
Man kann niemand nachhaltig dazu zwingen, die Welt des Lesens zu betreten. Dafür ist die Leseentwicklung eine zu komplexe Angelegenheit. Zu einer Leserin wird man nur freiwillig.
Einige Kinder lesen von sich aus gerne Comics. Kleinen Comiclesern kann auf ihrem Weg zur Bildung eigentlich nichts mehr passieren, denn sie sind bereits ein großes Stück dieses Weges entlang gegangen – die Comics werden ihnen nach und nach die ganze weite Welt des Lesens eröffnen.
Eine potenzielle Gefahrenquelle lauert jedoch auf dem Bildungsweg junger Comicliebhaber: Vermeintlich wohlmeinende Erwachsene, die den Umstand, dass die Kinder eben gerne Comics lesen, abwerten. Werturteile wichtiger Bezugspersonen beeinflussen Kinder – insbesondere, wenn es um so eine intime und komplexe Angelegenheit wie die der Leseentwicklung geht. Dann lassen die beschämten Kinder das mit dem Lesen aber vielleicht ganz bleiben.
Das Vorurteil, dass Comiclektüre die Kinder für das Lesen von Prosa „verbilde“, ist unterschwellig immer noch latent vorhanden – nur konnte es noch nie bestätigt werden. Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass begeisterte junge Comiclesende später keinerlei Schwierigkeiten mit längeren und komplexen Schrifttexten haben. Dazu genügt es, den Blick nach Frankreich zu richten, wo Comics fester Bestandteil der Alltagskultur sind und – in breiter Auswahl in den meisten Haushalten – auch von vielen Erwachsenen gelesen werden. Ich denke nicht, dass die große Comicliebe der französischen Bevölkerung der Qualität des schriftliterarischen Outputs des Landes geschadet hat.
Eltern und Lehrende sollten den Kindern also unbedingt die Freude an der Comiclektüre lassen. Sie, wenn möglich, aktiv begleiten und für eine spannende Auswahl sorgen. Denn es gibt beim genauen Hinsehen nichts, das man beim Comiclesen abwerten könnte.
3 ) Visuelle Bildung:
Gute Comics werden oft mehrmals gelesen. Zuerst lesen die Kinder die Geschichten meist recht flott, um die Handlung aufzusaugen, und nach einiger Zeit wird der Comic dann nochmals und ein Lieblingscomic sogar ein drittes Mal und öfter gelesen. Dann aber aufmerksamer und langsamer – eine Art Gourmetlesen, wobei die Kinder mehr auf Details und visuelle Erzähltricks achten und sich so auch der Autorenschaft einer Erzählung bewusst werden. Die Kinder lernen so auf ganz natürliche Weise, auf Details zu achten und ihr kritisches Denken wird angeregt.
Bilder sagen angeblich mehr als tausend Worte. Ein gutes Bild kann die Art und Weise, wie wir über die Welt denken und fühlen, jedenfalls nachhaltig beeinflussen. Eine talentierte Comicerzählerin kann aus einem Bild mehrere komplexe Ideen destillieren, die von ihren Lesern dann individuell interpretiert werden.
Mittels der unbewegten Bilder eines Comics ist es möglich, bereits mit sehr jungen Kindern Bildanalyse zu betreiben. Man kann die Kinder auf die Vieldeutigkeit von Bildern aufmerksam
machen und ihnen die visuellen Manipulationsmöglichkeiten zeigen, mit denen allen Bildmedien – Comics, Film und Fotografie – arbeiten. Ein gutes Instrument also, um bereits sehr früh ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie wir durch visuelle Informationen beeinflusst werden.
Durch Computer, Smartphone, Printmedien und Außenwerbung werden wir täglich mit hunderten Bildern konfrontiert. Die Fähigkeit, visuellen Informationen gegenüber auf kritische Distanz gehen zu können, ist Grundstein für eine visuelle Bildung, die in unserer Welt zunehmend wichtiger wird.
4 ) Kognitive Komplexität:
„There´s nothing in the medium that prevents it from being sophisticated.“ – Francoise Mouly (Redakteurin des New Yorker, Herausgeberin von Toon Books und RAW)
Comics setzen, was das Lesealter betrifft, meist dort an, wo das klassische Bilderbuch aufhört. In Comics wird das Prinzip Bildgeschichte jedoch auf ein wesentlich komplexeres Niveau gehoben: Comicleserinnen navigieren selbstständig durch die vielen Bilder auf einer Comicseite und stellen sinnstiftend die Verbindungen zwischen den Einzelbildern selbst her. Ein interaktives Medium, bei dem die einzelnen Bilder unbeweglich auf der Seite bleiben und die Leser selbst erst das Handlungsgeschehen zwischen den Bildern konstruieren müssen, in dem sie sich durch die Architektur einer Seitenkomposition bewegen. Und genau diese mentale Aktivität – die Induktionsleistung, das Schlussfolgern und das Herstellen von Verbindungen – ist etwas, das Kinder permanent machen: kleine Philosophinnen, die konstant versuchen, die Welt um sie herum zu verstehen. Bei der Comiclektüre ist genau diese Eigenschaft gefragt. Die Einzelbilder eines Comics sind letztlich nur die gewählten Ausschnitte, die uns die Autoren zeigen – gleichsam Fenster, durch die wir in die Handlung hineinsehen können. Die eigentliche Handlung selbst findet dann erst in unseren Köpfen statt.
Die Kinder sitzen beim Comiclesen auch ganz selbstbestimmt im Fahrersitz des Leseerlebnisses. Sie können ihr eigenes Lesetempo wählen und beliebig lange jedes einzelne Bild separat betrachten.
Und wer Comics flüssig lesen kann, kann ja bereits Texte lesen. Eine Comicleserin kann darüber hinaus aber auch Texte in Kombination mit Bildfolgen lesen – eine besondere Lesefähigkeit, die im deutschen Sprachraum im Erwachsenenalter nicht von allen beherrscht wird. Viellesende, die mit Genuss mehrere anspruchsvolle Romane im Monat lesen, sind deswegen noch nicht notwendigerweise auch flüssige Leser*innen anspruchsvoller Erwachsenencomics. Denn Comiclesen ist ein spezifisches Können: eine eigene Kulturtechnik, die genauso vermittelt, erlernt und geübt werden will.
Und erst wer diese Fähigkeit beherrscht, kann dann auch in den Lesegenuss moderner Graphic Novel-Klassiker wie Joann Sfars DIE KATZE DES RABBINERS, Hugo Pratts CORTO MALTESE oder Ulli Lusts HEUTE IST DER LETZTE TAG VOM REST DEINES LEBENS kommen.
Comiclesen sollte demnach nicht nur als sinnvolle Unterstützung zum Erlernen des Schriftlesens im Kindesalter betrachtet werden. Comics lesen zu können ist eine eigenständige Kompetenz, die in der Leseförderung hinreichender Selbstzweck ist.
“Wenn ich mich entspannen will, lese ich Engels. Steht mir der Sinn nach Ernsthaftem, lese ich CORTO MALTESE.” Umberto Eco
Dieser Text verwendet Auszüge aus Interviews mit Francoise Mouly (https://www.toon-books.com/) und Artikeln von der Leseförderungseinrichtung Eventilator (https://www.eventilator.de/comic-und-lesefoerderung.html) und Stiftung Lesen (https://www.stiftunglesen.de/service/publikationen-und-materialien/material-jugend/1379/). Mit Dank an Jörg Vogeltanz für seine Korrekturen.